Auswandern – warum es lange Zeit benötigt, um vom alten Leben loszulassen

 


Natürlich benötigt man Mut zum Auswandern. Doch so einfach ist es samt des Mutes nicht. Es existieren auch bei den meisten große psychologische Hindernisse. Ein altes Leben, einen Job mit Sicherheit und Geld oder Personen loszulassen bedeutet nach unserem modernen westlichen Verständnis sehr häufig und automatisch das Gefühl, etwas zu verlieren. Dieses Gefühl des Verlustes nehmen wir als unangenehm wahr. Loslassen ist wohl das Schwierigste, was es in unserer Konsumgesellschaft gibt – es bringt Unsicherheiten und die Zukunft ist ungewiss. Doch das muss nicht immer etwas Schlechtes sein, wenn das Leben sich grundlegend ändert. 

Auswandern ist wie das Aufgeben einer alten, verbrauchten Liebe :)

Ich vergleiche diesen Vorgang immer mit dem Beispiel einer verlorenen oder unerfüllten Liebe. Viele von uns warten oft viele Jahre und vergebens auf einen geliebten Menschen, der schon lange aus unserem Umfeld verschwunden ist, weil er einfach völlig andere Pläne als uns hatte. Wir wissen insgeheim, er wird nie wieder auftauchen. Trotzdem hoffen viele darauf und "verplempern" diese wertvollen Jahre nutzlos mit Warten und Hoffen. Sie verwenden die meiste Zeit damit, an diesen Menschen zu denken und stellen sich alle möglichen Situationen vor, wie er wieder an die Türe klopft. Dass die Erinnerungen Trugbilder enthalten, schieben die meisten einfach weg. Das Leben zieht so Jahr um Jahr unmerklich vorbei. Während dieser Mensch nicht mehr an diese Episode denkt und sein Leben bereits lebt, steht der Wartende auf der Stelle und entwickelt sich nicht weiter. Er bleibt gefangen in seinen Trugbildern und der unerfüllten Hoffnung einer Änderung zum Guten. 

Genau so sieht es mit Auswanderungsplänen aus, wenn die Angst, loszulassen größer ist als der Wunsch, endlich ein neues Leben zu beginnen. Meine Beobachtungen seit Jahrzehnten: In der Regel sind es die Frauen, weniger Männer, die sich so schöne Lebenspläne verbauen. Warum das so ist, kann nur ein Psychologe sagen. 

Erst wenn man es schafft, den Fokus auf die Realität zu setzen und begreift, dass sich das Leben geändert hat, wird es wieder lebenswert. Genauso verhält es sich mit einer Auswanderung – man denkt darüber nach, doch man hofft, dass das alte Leben aus der Vergangenheit sich wiederholt. Man hält an Dingen fest, die längst nicht mehr da oder überholt sind. Die Angst, dieses Scheinbild loszulassen, ist aber stärker, solange es noch erträglich ist. Meistens muss noch ein schlechtes Ereignis eintreten, um dann zu sagen – es reicht, ich gehe. Ich nenne es den sogenannten "Tritt in den Allerwertesten". 

Warum ist die Entscheidung, auszuwandern so schwer?

Je nach den Bindungserfahrungen in der Kindheit hängt es ab, wie gut wir im Leben loslassen können. Wurde uns in der Familie beigebracht, dass es schlimm ist, Menschen und Dinge aufzugeben, kommen wir als Erwachsene schlechter damit klar. Gab es vielleicht eine Trennung bei den Eltern, kann das mitunter ein Punkt sein, dass Loslassen noch schwerer fällt. Wichtige Werte wie Treue oder Durchhaltevermögen kommen ins Wanken. Jemanden oder etwas loslassen wird uns dann wie Aufgeben oder Versagen vorkommen. 

Das größte Problem eines zukünftigen Auswanderers sind Sorgen vor allen möglichen Konsequenzen, wenn er loslassen soll. Wie wirkt sich das auf das zukünftige eigene Leben aus? Alles verständliche Gefühle, doch sollte man abwägen – was lasse ich los und was werde ich dafür auf der anderen Seite erhalten? Ist das, was ich jetzt denke und habe, wirklich so erhaltenswert? Wenn ja, warum denke ich dann überhaupt darüber nach, es hinter mir zu lassen? So schön scheint es doch nicht gewesen zu sein. 

Es kommt auch beim Auswandern die Zeit, in dem man den Blick dafür bekommen sollte, dass das schmerzliche Loslassen neue Möglichkeiten auftut, einen besseren Weg zu gehen. Alle Belastungen und Sorgen, die das aktuelle Leben belasten, bauen sich dann ab. Vielleicht beißt man sich auch nur an einer Gewohnheit fest, die längst schon lästig ist und gar nicht mehr lebenswert. Doch ist es oft leichter vorhersehbare und gewohnte schlechte Dinge zu ertragen als eine ungewisse Zukunft. Das was man kennt, macht keine Angst.  Diese Ballast abzuwerfen, ist der erste Schritt für einen neuen Lebensplan. 

Loslassen ist wichtig – nicht nur beim Auswandern, sondern bei allen Entscheidungen im Leben.